zer o_c omments
Freitag, 8. Juli 2016 in montréal

Nested memories. Der bail ist noch nicht abgelaufen, aber mein Vermieter hat ein großes Herz und ist ohnehin zur Zeit auf Kuba -- oder schon auf dem weg nach Vietnam. An einem der ersten richtigen Sommertage verlasse ich also die chaotische Wohngemeinschaft, die Mäuse, und den hübschen Balkon mit den wuchernden Ranken. Su und ich haben zwei Straßen weiter eine Zwischenmiete gefunden. Die Interimsvermieterin muss für ein paar Wochen nach Griechenland. Man versteht sich blendend, und die Sache ist ausgemacht. Es ist die Erdgeschosswohnung eines Montréal-typischen Duplexes mit einem kleinen Hinterhofgarten, für den zu sorgen wir gern versprechen. Hier braucht man einen Garten oder Balkon. Doch selbst, wer das nicht hat, quetscht zwei Liegestühle auf die front porch, sobald es draußen nicht mehr friert.

Die Interimsvermieterin hat eine Freundin, die bei der Wohnungsübergabe kurz hereinschneit um irgendwas vorbeizubringen. Sie hat ein kleines Cottage und hinterlässt eine Visitenkarte. «Legt einfach fünfzig Dollar in die Schublade. Der Schlüssel ist unter dem Aschenbecher», schreibt sie ein paar Tage später.

Etwas kleineres als einen Jeep hat die Autovermietung nicht. Also nehmen wir den. Mitten in die ländliche Gegend rund um Mirabel, eine Dreiviertelstunde westlich von Montréal, ließen durchgeknallte Stadtplaner Mitte der Siebziger einen Flughafen bauen. Als die Bagger anrückten, ging der Optimismus der Weltausstellung 67 gerade zu Ende; die Québec-nationalistische Sprachpolitik hatte begonnen, Banken und viele andere Unternehmen nach Toronto zu vertreiben. Von den vierhundert Quadratkilometern (größer als die Stadt Montréal selbst) wurden schließlich kaum die Hälfte realisiert. Am Ende wollte niemand von Mirabel fliegen – zu weit enfernt von der Stadt, zu schlecht angebunden. Die leeren Terminals dienen noch als Filmkulisse, insofern sie nicht bereits abgerissen sind.

Mit Mirabel im Rücken verändert sich die Landschaft. Der urban sprawl weicht Bauernhöfen und Wäldern, die sich in sanfte Hügel schmiegen. Hinter LaChute verlässt man die Autoroute 50. Die Straße windet sich wie eine Raupe hinauf nach Dalesville. Es gibt genau ein Geschäft in diesem Dörflein, einen Dépanneur. Pannenhilfe – so nennt man in Québec einen Kiosk. Der Inhaber verkauft ganzjährig gewaltige Kisten mit Feuerwerk. «Irgend ein Fest ist ja immer», sagt er, und kann mein Staunen nicht verstehen.

Der Schlüssel liegt tatsächlich unter dem Aschenbecher. Zum Cottage gehört ein kleiner See. Das Ankunftsbier trinken wir gleich auf dem Steg. Der Wind kräuselt das schwarze Wasser; auf den Steinen sitzen Kaulquappen, groß wie Molche. Ein Bieber zeigt sich kurz und verschwindet für die nächsten Tage. Die Frösche sitzen dick am seichten Ufern und bleiben stumm bis die Sonne untergeht. Dann quaken sie ein seltsames Lied, dass ich eher Eseln zugetraut hätte. In den Sternen scheint sich etwas zu bewegen. Sternschnuppen die nach oben fallen? Erst beim dritten Blitzen fällt mir ein, dass ich zum ersten mal Glühwürmchen sehe.

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